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Urs im Wald

Die nächsten sieben

Das erste von sieben Fenstern, die das Atelier gegen aussen abdichten, ist im Rohbau fertig. Es soll vor allem verhindern, dass Vögel und Fledermäuse sich nicht so leicht in den Räumlichkeiten einnisten können und alles verkoten — oder werde ich etwa zu anspruchsvoll?

Von der Planung, dem Erstellen der Detailzeichnungen am alten Mac bis zu den Stücklisten habe ich langsam Übung und von den Erfahrungen der letzten acht Fenster des ersten Hauses kann ich profitieren. Immerhin bin ich froh, dass auch im zweiten Winter noch alle Fenster gleich gut funktionieren. Und anschliessend an diese Serie bleiben ja nur noch etwa zwölf Aussenfenster übrig. Und zwei grosse baies vitrées. Für Arbeit in den nächsten Wintern ist also gesorgt.

Ein Tag im Winterwald

Auf diesen Tag musste ich lange warten. Nach vielen regnerischen Tagen endlich schönes Wetter: beste Bedingungen, um im Wald zu arbeiten. Wer kümmert sich da (ausser ein paar Südfranzosen mit Sommerpneus auf den Felgen) um das bisschen Schnee, der die Piste bedeckt. Mit den fetten Spezialpneus klettert mein Stinker über alle Steigungen und Hindernisse.

Es liegt noch eine Birke am Boden, die ich vor drei Jahren gefällt habe und die dann Monsieur le Président (zusammen mit der kaputten Achillessehne) mich gehindert hat, zu holen. Sie liegt auf einer Parzelle, die offensichtlich vor einigen Jahrzehnten genutzt wurde und auf der sich nun ein dichter Jungwuchs entwickelt. Eschen, Eichen, Kirschbäume und Birken machen sich breit. Aber auffällig ist, dass sich auch noch etwa zwanzig junge Buchen mit ihrem Herbstlaub zeigen, obwohl im Umkreis von mehr als hundert Metern kein einziger Fruchtbaum anzutreffen ist. Nur zwei grössere Buchen stehen weit entfernt auf meinen Parzellen. Noch vor sechzig Jahren steuerte der Brennholzverkauf in die Stadt wesentlich zum Einkommen der Einheimischen bei. Mein 90-jähriger Nachbar Jean weiss auch noch, dass auf einigen Parzellen, auf denen nun Eichen als Stockwuchs stehen, Köhler am Werk waren. Energie kam dannzumal halt noch aus dem Wald. Heute aus Katar.

Ich werde den jungen Buchen möglichst viel Raum zur Entwicklung geben, um wieder einen standortgerechten Bestand zu erreichen. Das zwingt mich nun, mehr Föhren zu verheizen, die übermässig gepflanzt als schnellwüchsige Baumart bevorzugt wurden. Es stehen ein paar davon dürr am Pistenrand und drohen, umzustürzen. Leider ist die Wettervorhersage aber wieder schlecht.

Auf der Heimkehr bei Sonnenuntergang begrüsst mich der Vollmond am Horizont.

Zurück aus einer fremden Welt

Langstreckenflüge sind nicht mein Ding. Aber summa summarum haben sich zwischen diesen beiden Flügen so viele wunderbare Erinnerungen angesammelt, dass ich sagen muss: es hat sich gelohnt.

Kurz vor dem Rückflug hat mir Jerline noch ein Fläschchen mit Zuckerwasser mitgegeben. Dummerweise habe ich nicht daran gedacht, dass Flüssigkeiten im Handgepäck nur offen deklariert und beschränkt zugelassen sind. Prompt bin ich am Security Check hängen geblieben und mit einem gezielten Griff tief in meinen Rucksack hat der Officer das Gläschen ans Tageslicht befördert. Aber nach einer kurzen Rückfrage beim Vorgesetzten war alles wieder in Ordnung. Meine Nachlässigkeit wurde nicht geahndet. Ich kenne Vorkommnisse an europäischen Flughäfen, wo es anders gelaufen wäre. Das ist zwar eine kleine Anekdote, aber durchaus typisch für Singapur. Die Gesetze haben den Zweck, das Zusammenleben zu organisieren und nicht, um es zu komplizieren. Vor allem auch im Zusammenhang mit den Covid-Massnahmen und dem Immigrationsprozedere hat uns das sehr erstaunt.

In diesen Wochen sind zwei Themen in der Presse aufgetaucht, die den Ruf Singapurs, als Diktatur bezeichnet zu werden, bei uns mitbegründen: das Verbot der Homosexualität und die Todesstrafe. Unter dem Druck, dass das Oberste Gericht das Gesetzt kippen könnte, das Homosexualität unter Strafe stellt, ist die Politik dem zuvorgekommen. Gleichzeitig aber sind neue Gesetze in parlamentarischer Vorbereitung, die die Ehe als Verbindung von Mann und Frau definieren und die darauf begründete Familie staatlich schützen und fördern werden. Damit wird die Möglichkeit der Gerichte, nochmals mit Gleichheit zu argumentieren, verhindert. Liebe ist eben nicht gleich Liebe — zumindest noch in Singapur.

Bei der Todesstrafe ist die Diskussion von einem Tweet Richard Bransons lanciert worden. Der zuständige Minister hat Branson offeriert, in einem öffentlichen Rededuell anzutreten. Branson hat abgelehnt, da TV-Duelle der Ernsthaftigkeit des Themas nicht angemessen seien. Der Minister hat diese Verweigerung als Eingeständnis fehlender Argumente gefeiert. Er stützt sich auf Umfragen, in denen die Bevölkerung Singapurs diese drakonische Strafform befürwortet. Es wird sich zeigen, ob die Generation von Nathan und Max dies immer noch so sehen wird.

Zurück zum Fläschchen mit Zuckerwasser. Natürlich besteht der Inhalt nicht nur aus Wasser mit Rock Sugar (kristallisiertem Rohrzucker). Die Inhaltsangabe zählt neben Stabilisatoren noch das Wesentliche auf: Bird‘s Nest.

Jerline wollte es Jacqueline erklären, um was es sich bei Bird’s Nest handelt. Weil es in der Liste der Einfuhr von Lebensmitteln auftaucht, war ich vorgewarnt. In der Kurzform erklärt: Mauersegler aus dem Asiatischen Raum bauen sich ausschliesslich mit Hilfe ihres Speichels, und nicht wie in Europa noch mit Lehm, Nester für die Brutpflege. Gereinigt und sterilisiert finden diese Nester dann in der chinesischen Küche Eingang als Suppenbeilage oder in Desserts. In meinem Fläschchen schwimmen sie als weissliche Flocken im Zuckerwasser.

Ich wollte diese Kostbarkeit, ein Kilo ist bis zu 6000 Dollar wert, nicht alleine geniessen und habe nach der Rückkehr in Basel sie mit der Mitbewohnerin von Jacqueline verköstigt: süss im Geschmack zwar, aber gleichzeitig auch ungewohnt, irgendwie nicht beschreibbar, kurz fremd.

Es sind all diese kleinen Erfahrungen, die den Kurztrip in eine andere Kultur so wertvoll gemacht haben. Ermöglicht durch eine vor ein paar Jahren in Zürich geschlossene Freundschaft: Danke Jerline, danke Ben. Und Dank auch an Jacqueline.

Places to visit

Tripadvisor führt für Singapur 3205 Sehenswürdigkeiten in der Online-Liste auf. Gleichzeitig werden für einen Aufenthalt drei Tage oft als hinreichend geschildert. Für die Top 10 Sehenswürdigkeiten mag das ausreichen, obwohl vor dieser Art von Tourismus mir graut. Aber die Position Singapurs als Airhub für ganz Südostasien bringt es mit sich, dass Kurzaufenthalte zwischen zwei Flügen eingeplant werden können. Ich habe mich entschieden, für zwei Wochen zu bleiben.

Natürlich gibt das Gelegenheit, auch diese Sehenswürdigkeiten „mitzunehmen“: Marina Bay, Orchard Road, Little India, Sentosa Island, S.E.A. Aquarium, Tree Top Walk, Pulau Ubin, Botanic Gardens, Juwel im Changi Airport, Singapur Flyer, River Wonders, Cable Car und die Gardens by the Bay mit den Super Trees und dem Flower Dome. Alles bestens organisiert und unter kundiger einheimischer Führung erlebt.

Toll, das alles gesehen zu haben. Aber was mich wirklich interessiert, ist nicht das Bereisen eines Landes oder einer Stadt. Es ist das Bewohnen. Die Gelegenheit, eine fremde Kultur nicht aus der Vogelperspektive, sondern aus der Froschperspektive kennenzulernen, hat diese zwei Wochen so wertvoll gemacht. Es sind die Situationen, die sich aus dem Alltag einer dort lebenden Familie ergeben, die es spannend machen: Klein Nathan in seinen Kindergarten zu begleiten, eine Geburtstagsfeier oder ein Abendessen mit der Familie Jerlines. Aber auch die verschiedenen Restaurantbesuche waren eindrucksvoll. Ich kann mir nicht vorstellen, wie sonst ein Tourist diese Breite an kulinarischen Genüssen aus ganz Asien erleben könnte. Und wer würde es wagen, im wohl teuersten Hotel Singapurs, dem Raffles, in der Grand Lobby einen Afternoon Tea mit Champagner zu buchen? Auch klein Max hat es gefallen.

Natur pur ?

Da sich der ganze Stadtstaat Singapurs sich als „City in Nature“ sehen will, werden überall mit grossem Eifer Pflanzungen in die neu erstellten Siedlungsstrukturen eingeplant. Selbst auf den sechs- oder achtspurigen Autobahnen fahrend erhält man den Eindruck, eine Parklandschaft zu durchqueren. Viele Hochbauten sind mit begrünten Fassaden versehen oder es wuchern auf Zwischenetagen in luftiger Höhe tropische Gärten.

Im feuchtheissen Klima nahe beim Äquator gedeihen so in phantastischer Vielfalt Pflanzen aus aller Welt. Das Prunkstück dieser Gartenkultur stellt der Botanische Garten dar. Auf einer Fläche von beinahe einem Quadratkilometer werden tausende Pflanzenarten in thematischer Gliederung präsentiert. Ich stelle mir vor, dass keine Baumart des tropischen Gürtels der Erde hier fehlt. Jede Ecke scheint einem strengen Management und wissenschaftlicher Kontrolle zu unterliegen. Immer wieder wird in der Beschilderung auf die Bedeutung natürlicher Ressourcen und deren Schutz hingewiesen.

Aber irgendwie staute sich in mir beim Lustwandeln durch diese Zauberwelt zunehmend ein Gefühl der Fremdheit auf. Es würde möglicherweise niemandem auffallen, wenn diese ganze Pracht aus lauter Plastik geschaffen worden wäre. Zu gut können heute Pflanzen imitiert werden. Wer hat nicht schon mit der Hand an Pflanzen greifen müssen, um sich zu vergewissern, dass sie nicht echt sind.

Dieses Gefühl, eine künstliche Natur geschaffen zu haben, muss auch mal den Parkgestaltern aufgekommen sein. Nur durch Zufall entdeckt man beim Durchwandern ein Schild, das auf Natur „in echt“ hinweist. Auf einer winzigen Fläche von 110 Quadratmetern wird seit 5 Jahren eine ehemalige Rasenfläche nicht mehr regelmässig gemäht und der natürlichen Entwicklung überlassen. Mit wenigen Eingriffen wird verhindert, dass die Fläche offen bleibt und nicht zu einem Wald zuwächst. Es lohnt sich, diesen Text ganz zu lesen, aber der Satz „… Such lightly-maintained greenery has value for connecting people with nature…“ degradiert den ganzen restlichen Park zur künstlichen Inszenierung.

Damit das nicht als masslose Übertreibung meinerseits stehen bleibt, erwähne ich hier die Anekdote, dass klein Nathan schon aufgefordert wurde, Pflanzen nicht zu berühren, um sich nicht schmutzig zu machen. Es gibt in Singapur halt keine Waldschulen. Hier hätten die Verantwortlichen des Natural Park Boards eine lohnende Bildungsaufgabe zu übernehmen. Verschiedene, grosse und naturnahe Flächen bis hin zu Primärwäldern böten sich dafür noch genug an. Wenn wie gesehen Teenies in ihren Schuluniformen einmal durch einen Parkwald gelotst werden, funktioniert die Kontaktaufnahme mit „Natur pur“ nicht mehr. Die Uniform muss ja sauber bleiben.