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Urs im Wald

Reminiszenz

Es ist unvermeidlich, dass ich bei der Arbeit immer wieder mit den prekären Bedingungen konfrontiert werde, unter denen die Einheimischen in den „alten Zeiten“ überleben mussten. Bekanntlich war die Beschaffung von genügend Nahrungsmitteln, um den Winter jeweils zu überstehen, eine grosse Sorge.

Nach meiner Kartoffelernte im August erzählte mir mein Nachbar, dass es üblich war, einen Teil der Ernte gleich wieder neu zu pflanzen. Das habe ich mit vier kleinen Knollen gleich ausprobiert. Und tatsächlich konnte ich vor den ersten starken Frösten des Spätherbstes noch eine zweite Kartoffelernte einfahren, diesmal mit weniger Ertrag, aber mit einer gewissen Ehrfurcht vor der Arbeit meiner „Vorbewohner“.

Der Winter kann kommen. Ich freue mich schon wieder auf die Arbeit im Wald.

Es wird so langsam langweilig

Wahrscheinlich macht es die Jahreszeit aus und die Gedanken nehmen die Farbe der Natur an. Viel Buntheit zeigt sich zwar wieder im Laub des Waldes, aber eine lange Regenperiode mit frühen dunklen Stunden am Abend macht grauen Gedanken Platz. Was habe ich in den letzten Monaten eigentlich alles erreicht? Es beschleicht mich das Gefühl, irgendwie an Ort zu treten. Alles scheint sich zu wiederholen. Der tausendste Stein ist in den Stützmauern gesetzt, die zehnte Wand verputzt, die Fenster Nummer elf, zwölf und dreizehn sind in Bearbeitung und auch im Garten läuft alles wie schon seit Jahren ab. Und mit den kühleren Temperaturen des Herbstes sind die Menschen aus der Nachbarschaft wieder abgereist. Oft ist abends nur ein Fenster beleuchtet und eigentlich scheinen die vier Strassenlaternen nur für die paar streunenden Katzen, die den Weg auch ohne dieses Licht finden würden.

Die Langeweile ist schnell verflogen, wenn ich daran denke, was noch an Arbeit zu leisten ist. Denn langsam konkretisiert sich die zweite grosse Etappe meines Traumes: das Atelier. Es bleiben noch zwei Wände zu verputzen. Die x-te Überarbeitung des Bauplanes ist abgeschlossen und ich muss mich nun um das Bestellen von 2 Kubikmeter Holzbalken kümmern, die für die Galerie benötigt werden. Kummer bereitet mir die Frage, wie ich die 60kg schweren Balken an ihre Position bringen werde. Es wird sich eine Lösung finden müssen. Die Kraft des Hebels lässt sich ja noch immer nützen.

In einer Regenpause ist mir draussen aufgefallen, dass es im Garten noch etwas zu holen gibt. Die zwei Wildrosensträucher sind voll von Beeren. Zur Abwechslung habe ich mal davon anderthalb Kilo gepflückt und werde versuchen, sie zu etwas Essbarem zu verarbeiten. Die restlichen geschätzt 10 Kilo lasse ich hängen. An vielen Orten der Welt gibt es offensichtlich immer noch Überfluss. Nur an der Verteilung scheint es hin und wieder zu mangeln.

Kartoffelernte — ganz genau kalkuliert

Ob es daran liegt, dass unser Überleben für lange Zeit von einer guten Kartoffelernte abhing, dass ich immer mit Spannung meine Kartoffeln ernte und mich dabei frage, wie hoch der Ertrag diesmal wohl sei? Dieses Jahr sind es immerhin 55 Kilogramm. Brutto, denn etwa 18 Kilogramm wären für den Handel zu klein oder beschädigt. Ein grosser Anteil davon wurde durch meine unsorgfältige Bewässerung dem Sonnenlicht ausgesetzt und ist nicht mehr geniessbar. Ich werde allerdings die Hälfte mit Rüstarbeit noch retten können und die ganz kleinen sind gebraten ja auch ganz lecker. Somit verringere ich den food waste ab Acker von 33% auf etwa 15%. Durch Rüstabfälle und den Verlust durch die lange Lagerung wird allerdings der Prozentsatz dann wieder markant steigen. Es ist zum Verzweifeln.

Immerhin kann ich mit meinem Nettoertrag pro Quadratmeter punkten. 37 Kilogramm auf 8 Quadratmeter ergibt rechnerisch 46 t/ha. Der Durchschnitt auf den Äckern Europas komme kaum über 40 Tonnen, sagt man mir im Internet. Und erst noch nicht in Bioqualität. Aber der Aufwand muss beim Ertrag ja mit berücksichtigt werden. Eine konsequente Bewässerung bei Trockenheit ist nicht so ohne, denn Wasser muss in der Landwirtschaft für Bereiche mit höherer Wertschöpfung reserviert werden. Die gefrässigen Kartoffelkäfer suche ich in der Flugzeit jeweils am Mittag auf den Blättern zusammen, wenn sie sich zur Kopulation bereit halten. Das hält den Frassschaden ohne Spritzmitteleinsatz klein. Diesen Zeitaufwand vermag ich aber nicht auf eine Hektare hochzurechnen. Kurz: man muss einiges Büschelen, um seine Nahrung sogenannt nachhaltig auf den Teller zu bringen.

Kürzlich habe ich eine Videoproduktion der NZZ angeschaut mit der Frage im Titel, wie lange wir noch Tiere essen. Eine Trendforscherin des Gottlieb-Duttweiler-Instituts prophezeit darin, dass wir uns schon 2050 aus Gründen des Klimaschutzes, der Biodiversität und der Ethik komplett fleischlos ernähren werden. Wir (mich wohl aus Altersgründen ausgenommen) werden ja sehen. Nur muss dann auch akzeptiert werden, dass der Ausschuss auf dem Acker nicht mehr als Tierfutter verwertet werden kann. Das heisst dann wohl augmented food waste oder so. Und das Grasland wächst zu geschlossenem Wald zusammen. Ade Biodiversität. Wald, der aus Bäumen besteht, die wir wiederum für den Schutz des Klimas nicht mehr fällen und verbrennen dürfen.

Die Trendforscherin meint im Video, wir würden für unsere Gesundheit sowieso zu viel Fleisch essen. Deshalb am besten gar keines mehr. Und da wir sowieso und überhaupt auch zu viel essen, wäre gar nichts mehr zu essen die logische Folge. Das wäre wahrscheinlich die Antwort von ChatGPT.

Ich weiss nicht mehr, was ich machen soll. Es ist alles so kompliziert geworden. Oder ist doch alles nur eine Frage des gesunden Menschenverstandes, den auch die AI niemals beherrschen wird?

Morgen gehe ich wieder in den Wald, um zu arbeiten.

Alle sind ganz aufgeregt

Man bekommt das Schild im Fenster kaum zu Auge. Aber es ist offensichtlich, dass der Eigentümer das an mein Atelier angebaute Haus zu verkaufen gedenkt. Jetzt fragen sich alle in der Nachbarschaft, wer mal unsere kleine Gemeinschaft komplettieren wird. Es ist die letzte freie Liegenschaft. Es muss ein wagemutiger Investor sein, denn schon andere Renovationsvorhaben sind an den Vorschriften gescheitert. Abwarten.

Ça gratte …

… et ça ne s’arrête pas ! hat mir neulich mein Nachbar Frédéric zugerufen. Tatsächlich bin ich hin und wieder irgendwo am Kratzen. Schon in den ersten Monaten hier musste ich den ganzen Garten umgraben. Es galt, mit einem kleinen Pickel den harten, steinigen und lehmigen Boden vor dem Sieben zuerst zu lockern. Dabei entstand dieses kratzende Geräusch. Und auch jetzt wieder kratze ich etwa 10m3 aufgeschütteten Schutt auf, um den Hang hinter dem Haus zur Strasse hin mit einer Mauer zu sichern. Dabei gewinne und sortiere ich fünf verschiedene Materialien: grosse, oft behauene Quader und Bruchsteine für den Bau der Mauern, faustgrosse Steine zur Hinterfüllung, Schotter für den Bodenbelag und ein feines Sand-Erde-Gemisch, das ich für den Garten verwenden kann. Natürlich habe ich mich im Zeitplan wieder gehörig verschätzt. Es ist mühsamer als ich dachte. Was soll’s. Das Wetter ist schön und heiss und abends bin ich müde — für ä tüüfe, gsunde Schlaaf.

Am letzten Wochenende war ich bei Frédéric zu seinem 50. Geburtstag eingeladen. Eine seiner Schwestern hat mich allen Gästen vorgestellt und dabei ergibt sich immer das Problem mit meinem Vornamen. Urs, so etwa wie ours ausgesprochen, lässt die Franzosen jeweils ratlos und ungläubig zurück. Da die meisten der Gäste mich am Nachmittag schon beim Kratzen gesehen haben, habe ich ihnen erklärt, ich sei nicht der ours brun oder ours polaire, sondern eben der ours gratteur. Das war dann für sie einleuchtend und verständlich.